Rezension von Detlef Wildraut in Tjaldur Nr. 39, Januar 2008 (Zeitschrift
des Deutsch-Färöischen Freundeskreises)
Lisbeth Nebelong, Når engle spiller Mozart (Wenn Engel
Mozart spielen), Verlag Elkjær & Elkjær, 3. Ausgabe,
2. Auflage, 2007, 297 Seiten.
„Dieses kleine lächerliche, verwünschte, wunderbare
Land,
mit dem ihr Schicksal zutiefst verbunden war.“
2003 veröffentlichte die dänische Autorin Lisbeth Nebelong
ihren ersten Roman „Når engle spiller Mozart“
(Wenn Engel Mozart spielen). Der Titel lässt nicht erahnen,
dass die gesamte Handlung des Romans auf den Färöern,
und zwar fast ausschließlich in Tórshavn, spielt.
Die Hauptperson des Romans ist Lisa, eine Dänin. Der Roman
hat zwei Hauptthemen, die beide eng miteinander verbunden sind,
Lisas Rückblick auf ihr bisheriges Leben und ihre Auseinandersetzung
mit den Färöern. Um dies zu erreichen, hat die Autorin
sich für eine Rahmenhandlung entschieden, in die sie immer
wieder Retrospektiven eingebaut hat.
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt. Die Hauptperson,
Lisa Bjørn Nielsen, 44 Jahre alt, reist an einem Samstagvormittag
im Februar 2000 auf die Färöer. Sie soll im Nordlandhaus
in Tórshavn auf einer Konferenz über Fragen einer
künftigen färöischen Unabhängigkeit einen
Vortrag halten. Lisa betreibt mit ihrem Mann eine gutgehende Rechtsanwaltskanzlei
in Kopenhagen, mit Filialen in Stockholm und Brüssel. Außerdem
ist sie Dozentin für Staatsverfassungsrecht. Sie hat den
Vortrag in Vertretung eines Universitätskollegen übernommen,
der plötzlich krank wurde.
Die Rahmenhandlung des Romans beschreibt die vier Tage auf den
Färöern, die Lisa bis zu ihrer Abreise am Dienstagmorgen
verbringt. Es ist nicht ihr erster Aufenthalt auf den Färöern.
Sie war früher zweimal auf den Färöern. Das erste
Mal als Elfjährige im Juli 1967. Anlass für diesen Aufenthalt
mit der ganzen Familie war, dass die dänische Regierung Lisas
Vater den Posten des Reichsombudsmanns auf den Färöern
in Aussicht gestellt hatte, und ihr Vater hatte den fälligen
Familienurlaub auf die Färöer verlegt, um sich bei dieser
Gelegenheit dort schon einmal über seinen künftigen
Wirkungsbereich zu informieren.
Das zweite Mal ist sie von August 1973 bis Juni 1974 auf den Färöern.
Ihr Vater ist inzwischen zum Reichsombudsmann ernannt worden,
und Lisa verbringt ihr letztes Gymnasialjahr am Gymnasium von
Tórshavn, an der „studentaskúlin í
Hoydølum“, wie die Einheimischen es nennen. Die Beschreibung
dieser beiden früheren Aufenthalte auf den Färöern
bildet die Retrospektive, welche die Autorin nacheinander in eigenen
Kapiteln in die Rahmenhandlung einfügt und sie damit immer
wieder unterbricht.
Die entscheidenden Ereignisse beginnen für die elfjährige
Lisa am färöischen Nationalfeiertag, dem sogen. Olavsøka,
am 29. Juli, der in der Hauptstadt Tórshavn als großes
Volksfest gefeiert wird. Auf dem Konzert eines Quartetts ist der
jungen Lisa der ungefähr gleichaltrige Cellospieler aufgefallen,
der ihr trotz seiner Jugend schon ernsthaft und professionell
wie ein erwachsener Musiker vorkommt. Auf dem Heimweg ins Hotel
wird Lisa von einigen färöischen Halbwüchsigen
als Dänin erkannt und übel beschimpft. Als sie, tief
verstört und schockiert, in Tränen aufgelöst, weiterläuft,
begegnet ihr unerwartet dieser junge Cellospieler wieder. Als
eine Art rettender Engel tröstet er sie und lädt sie
ein, ihn zum Hause seines Onkels zu begleiten, eines Musikers,
der im Tórshavner Vorort Argir wohnt. Von dort nimmt Kári,
so heißt der junge Cellist, Lisa mit in die Außenmark
oberhalb von Argir, um ihr „seine“ Höhle zu zeigen,
die er dort einmal entdeckt hat. Als sie oben in Káris
Höhle angekommen sind, hindert sie plötzlich aufkommender
dichter Nebel an der Rückkehr, und sie müssen die Nacht
gemeinsam in der Höhle verbringen. Lisa fühlt sich bei
diesem Zusammensein in der Höhle auf eine für sie seltsame
Weise, die sie in ihrem vorpubertären Stadium noch nicht
richtig deuten kann, zu diesem Jungen Kári hingezogen.
Im Gespräch mit ihrem jüngeren Bruder Erik, der in kindlich
unbefangener Neugier fragt, was denn in der Höhle geschehen
sei, wird Lisa nachträglich klar, dass mit diesem Zusammensein
in der Höhle für sie ihre Kindheit zu Ende gegangen
ist. Am frühen Morgen begleitet Kári Lisa zurück
zum Hotel Hafnia, wo ihre Eltern wohnen. Beim Abschied vor dem
Hotel sagt er ihr: „Ich weiß, du kommst zurück
auf die Färöer, Lisa.“ Aber Lisa glaubt ihm nicht.
Und Lisa kommt zurück auf die Färöer. Sie besucht
von August 1973 an das letzte Schuljahr in der „Studentaskúli“,
dem Gymnasium von Tórshavn. Im Gegensatz zu ihrem Bruder
Erik, der eine Klasse unter ihr ist, tut sich Lisa mit der neuen
Schule und der neuen Sprache recht schwer. Sie erlebt im Unterricht
immer wieder Situationen, in denen sie gemobbt wird, einfach,
weil sie Dänin ist. Besonders negativ tut sich dabei der
Lehrer für Färöisch und Geschichte hervor, ein
Anhänger der Unabhängigkeitspartei Tjóðveldisflokkurin.
Es gelingt ihm nicht, im Falle der Reichsombudsmannstochter zwischen
seiner tiefen Abneigung gegenüber allem Dänischen und
seiner Lehrerpflicht zur Objektivität gegenüber seinen
Schülern eine klare Trennungslinie zu ziehen. Besonders schlimm
ist es für Lisa, wenn sie erleben muss, dass in solchen Situationen
ihre Klasse sich mit dem Lehrer gegen sie solidarisiert. Nach
wenigen Monaten ist Lisa so deprimiert, dass sie erwägt,
das Gymnasium in Tórshavn zu verlassen und ihre Schulausbildung
in Dänemark fortzusetzen. Es ist der Musik- und Dänischlehrer
der Klasse, übrigens selbst ein Däne, dem es gelingt,
Lisa aus diesem Tief herauszuholen, indem er sie ermutigt, ihre
musikalische Begabung – sie ist u.a. eine ausgezeichnete
Guitarrenspielerin – für die Schule einzusetzen. Lisa
beteiligt sich an Proben für das jährliche Schulkonzert
und sie gibt nun Mitschülerinnen Guitarrenunterricht.
Erik dagegen, der jüngere Bruder, findet sich in der neuen
Situation am Gymnasium in Tórshavn sehr schnell zurecht.
Er ist schon nach kurzer Zeit anerkannt bei seinen Mitschülern,
hat viele Kontakte und beherrscht auch bald die neue Sprache.
Besonders engen Kontakt hat er mit einem Klassenkameraden, nachdem
sie beide herausgefunden haben, dass sie die Liebe zur Musik teilen.
Dieser Klassenkamerad von Erik ist kein anderer als Kári,
mit dem Lisa vor einigen Jahren die Nacht in der Höhle verbracht
hat. Kári kommt häufig zum gemeinsamen Musiküben
mit Erik in die „Amtmannsburg“, den Dienstsitz des
dänischen Reichsombudsmanns in Tórshavn. Lisa hat
Kári schon am ersten Schultag auf dem Schulhof wiedererkannt.
Obwohl er ihr nun öfter begegnet, weicht sie ihm geflissentlich
aus, ohne, dass ihr recht bewusst ist, warum.
An einem Märznachmittag befindet sich Lisa noch in der Schule,
weil sie Guitarrenunterricht erteilt. Als ihre Schülerinnen
sich verabschiedet haben, übt Lisa noch weiter, für
ihren eigenen Auftritt im bevorstehenden Schulkonzert. Sie ist
so sehr in ihr Spiel vertieft, dass sie nicht merkt, wie draußen
ein schweres Unwetter aufzieht. Lisa hat keine Möglichkeit,
zu Hause anzurufen, – wir befinden uns noch nicht im Zeitalter
der Mobiltelefone - damit jemand sie mit dem Wagen abholt. Sie
beschließt, den steilen Fußweg hinter der Schule,
der zu einer viel befahrenen Ausfallstraße führt, hinaufzugehen
und einen Wagen anzuhalten, der sie in die Stadt mitnimmt. Aber
es kommt kein Wagen vorbei, der stadteinwärts fährt.
Völlig durchnässt und durchgefroren geht sie nun zu
einem der Häuser an der Straße hinauf. Dort sieht sie
Lichtschein in einem Fenster. Sie weiß, dass dieses Haus
den Eltern von Kári gehört. Sie will von dort aus
ihre Eltern anrufen. Als die Haustür sich öffnet, steht
Kári in der Tür, der seinen Augen kaum trauen mag,
wer da vor ihm steht. Lisa erreicht am Telefon nur ihren Bruder.
Der Vater ist nicht zu Hause, er holt seine Frau ab. Als Erik
erfährt, wo Lisa sich befindet, sieht er keine Notwendigkeit,
dass der Vater bei diesem Unwetter noch einmal hinausfährt,
um seine Tochter abzuholen. Er rät Lisa, im Haus von Káris
Eltern zu übernachten und am nächsten Morgen von dort
aus zu der nahe gelegenen Schule zu gehen. Kári lädt
Lisa ein, über Nacht zu bleiben. Seine Eltern sind nicht
zu Hause. Der Leser ahnt schon, was nun kommen wird. Es kommt
an diesem Abend und in der Nacht zu einem rauschhaften Liebeserlebnis
zwischen Lisa und Kári. Es ist gleichsam die Konsequenz
dessen, was Lisa damals in der Höhlennacht noch so undeutlich
empfunden hat. Aber nun sind sie beide nicht mehr die Kinder von
damals. Lisa wird sich bewusst, dass eigentlich etwas in ihr zu
dem, was nun geschieht, schon lange hin gedrängt hat, und
deshalb will sie es nun und gibt sich dem, was geschieht, ganz
und gar hin.
Nach dieser rauschhaften Begegnung hält Lisa sich von Kári
eher fern. Erst während ihres Färöerbesuchs, gut
25 Jahre später, wird ihr klar, warum. Káris leidenschaftliche
Liebe zu ihr hat sie verschreckt, aber noch viel mehr hat die
Leidenschaft ihrer eigenen Gefühle, die Kári in ihr
geweckt hat, und von der sie vorher nichts gewusst hat, sie erschreckt.
Bevor sie bald nach dem bestandenen Abitur nach Dänemark
reist, kommt es noch zwei Mal zwischen Kári und ihr zu
einer Liebesvereinigung. Beide Male zufällig, und beide Male
empfindet Lisa nach anfänglichem Widerstreben, dass etwas
in ihr sie zu dieser Vereinigung drängt. Beim zweiten Mal
geschieht es ausgerechnet in der „Amtmannsburg“, wo
Kári sie tagsüber in ihrem Zimmer schlafend antrifft.
Diese letzte Vereinigung ist folgenreich. Lisa wird schwanger.
Auf Drängen ihres Bruders Erik besucht Lisa Kári zwei
Stunden vor der Abfahrt des Schiffes zu Hause, um sich von ihm
zu verabschieden. Kári beschwört sie, zu bleiben,
bis er in einem Jahr das Gymnasium beendet hat, damit sie gemeinsam
nach Dänemark gehen können. Aber Lisa ist fest entschlossen,
jetzt die Färöer zu verlassen. Nicht nur, um ein Jurastudium
zu beginnen, sondern auch, um dort ihre Schwangerschaft abbrechen
zu lassen, von der sie niemand etwas erzählt hat, nicht ihren
Eltern und auch nicht Kári.
Der viertägige Besuch im Februar 2000 auf den Färöern,
der sich eigentlich nur zufällig ergeben hat, wird für
Lisa zu einem einschneidenden Erlebnis. Für den Vorabend
ihres Vortrages erhält sie aus dem Büro des Lögmanns
eine Karte für ein Konzert des Symphonieorchesters der Färöer
im Nordlandhaus. Auf dem Programmzettel entdeckt sie vor dem Konzert,
dass Kári Sandoy als Solist in einem Cellokonzert von Dvorák
auftreten wird, ihr Kári! Es kommt zu einer Begegnung zwischen
den beiden. Sie erfährt, dass er in Stavanger lebt und als
Musiker arbeitet, sie sieht seine Frau und seine beiden Kinder.
Bevor sie sich verabschieden, fragt Kári Lisa: „Bist
du glücklich?“ Sie bejaht die Frage. Und er fragt auch,
ob sie Kinder hat. Sie antwortet ihm: „Nein“, aber
ihre Frage, ob er glücklich sei, lässt er unbeantwortet
im Raum stehen. Zwei Tage später, als Lisa in der Halle des
Flughafens Vágar auf den Rückflug wartet, begegnet
sie Kári noch einmal. Er hat sein Cello zum Flughafen gebracht,
um es im Voraus über Kopenhagen nach Stavanger zu senden.
Beide Male wird Lisa klar, dass sie sich noch immer genau so zu
Kári hingezogen fühlt wie früher. Sie sagt ihm,
bevor sie sich endgültig verabschieden, was sie ihm eigentlich
schon beim Abschied vor 25 Jahren sagen wollte – aber damals
fiel es ihr nicht rechtzeitig ein - „Du hast mehr für
mich bedeutet, als du ... vielleicht ... glaubst.“. „Pass
gut auf dich auf, Lisa. Wir sehen uns“, sind Káris
letzte Worte.
Am Tag nach dem Konzert hält Lisa am selben Ort ihren Vortrag
über Staatsaufbau und die wichtigsten Reformen im Souveränitätsprozess
der Färöer. Als sie ihr sorgfältig vorbereitetes
Redemanuskript vorgetragen hat – von der vorgegebenen Redezeit
sind noch einige Minuten übrig – fühlt sie plötzlich,
dass etwas fehlt. Sie hat ihr Thema zu distanziert-akademisch
abgehandelt. Der Funke ist nicht auf die Zuhörer übergesprungen.
Nach allem, was ihr in diesen Tagen auf den Färöern
durch den Kopf gegangen ist, kann sie es einfach nicht mehr bei
dieser sachlichen Distanz zum Thema bewenden lassen. Sie nutzt
die verbliebenen Minuten, um aus dem Stegreif darüber zu
sprechen, dass die Dinge, die man sich vorgestellt hat, sich nicht
immer genau so entwickeln, weder bei dem färöischen
Souveränitätsprozess, noch im persönlichen Leben
eines Menschen. Sie spricht davon, wie dieser erste Besuch auf
den Färöern nach 25 Jahren sie persönlich verändert
hat, und wie er auch ihre Sicht auf den politischen Prozess auf
den Färöern verändert hat. Und sie findet persönliche
Worte der Anerkennung für diesen Souveränitätsprozess
der Färöer. Als sie geendet hat, bricht Beifall los.
Unter denen, die zu ihr kommen, um sich für ihre Worte zu
bedanken, sieht sie einen gebrechlich wirkenden alten Mann. Sie
hat ihn bereits am Tag zuvor nach dem Konzert gesehen, und bei
seinem Anblick spürte sie, wie sie sich unwillkürlich
in einer Abwehrhaltung verkrampfte, genau wie damals. Denn sie
hat ihren früheren Färöischlehrer am Gymnasium,
der sie mehr als einmal gedemütigt hatte, sofort erkannt.
Nun, da er zu ihr kommt, um sich für ihre Worte zu bedanken,
fühlt sie wieder dieselbe unwillkürliche Abwehrhaltung,
aber plötzlich spürt sie, wie der Fluch weicht, der
über ihrer Beziehung lag, und sie ist imstande, ihren Händedruck
mit einem kleinen Lächeln zu begleiten. Diese Begegnung mit
dem alten Färöischlehrer steht symbolisch für Lisas
Versöhnung mit diesem Land, in dem sie nicht nur Momente
größten Glücks, sondern auch Augenblicke tiefer
Erniedrigung erlebt hat.
Aber diese vier Tage auf den Färöern bringen Lisa nicht
nur die Auseinandersetzung mit ihrem persönlichen Verhältnis
zu diesem Land. In noch intensiverem Maße bringen diese
Tage sie dazu, eine Bilanz ihres bisherigen Lebens zu ziehen.
Den ersten Anstoß dazu gibt ihr Bruder Erik, der Psychotherapeut
geworden ist, in einem Telefongespräch am Tag nach ihrer
Ankunft, als er sie fragt: „Bist du glücklich, Lisa?“,
und dann noch einmal: „Bist du das, Lisa? Mit deinem Henrik?“
Es ist nahezu die gleiche Frage, die ihr am Abend dieses Tages
Kári stellen wird.
Ist sie glücklich? Daran hat sie bisher nicht gezweifelt.
Aber langsam wird ihr in diesen Tagen klar, dass es auch noch
eine andere Möglichkeit für sie gegeben hätte.
Als sie Káris Kinder sieht, kommt ihr plötzlich der
Gedanke, wie sie wohl aussehen würden, wenn es ihre und Káris
Kinder wären. Und ihr wird bewusst, dass sie mit ihrem acht
Jahre älteren Mann Henrik nie diese Intensität der Leidenschaft
erlebt hat, die sie bei der Vereinigung mit Kári empfand.
Es war die ganzen Jahre so gewesen, als hätte gleichsam eine
dicke Wolkendecke über ihrer Vergangenheit mit Kári
gelegen. Und nun lichtet sich diese Decke immer mehr, Lisa sieht
wieder alles klar vor sich, und sie hat das Gefühl, den Schlüssel
zu dem gefunden zu haben, was sie damals eigentlich gewollt hat:
ihr und Káris Kind zur Welt zu bringen und bei Kári
zu bleiben. Aber die Türe, in die der Schlüssel passt,
existiert nicht mehr. Sie hat den Schlüssel fünfundzwanzig
Jahre zu spät gefunden. Auch der Schlüssel hat in diesem
Buch seine symbolische Bedeutung.
Lisa beginnt zu verstehen, dass sie für ihre Lebensentscheidung,
die ihr persönlich und beruflich Erfolg gebracht hat, auch
einen Preis hat zahlen müssen. Dass sie den Schwangerschaftsabbruch
verdrängt hat, dass sie verdrängt hat, wie sehr sie
sich zu Kári hingezogen fühlte. Und nach einem nächtlichen
Traum wird ihr klar, dass sie in ihrer damaligen Entscheidung,
sofort nach dem Abitur mit dem Jurastudium in Dänemark zu
beginnen, keineswegs so frei gewesen war, wie sie immer geglaubt
hat. Sie wollte bewusst nicht den Weg ihrer Mutter gehen, die
ihren Beruf aufgegeben hatte, um ganz als Mutter und Hausfrau
für ihre Familie da zu sein. Aber Lisa hatte sich bei ihrer
Ablehnung der Rolle ihrer Mutter unbewusst immer mehr dem Wunschbild
angepasst, das ihr Vater von seiner Ältesten hatte. Der Vater
war immer ihr großes Vorbild gewesen. Er war ein erfolgreicher
Jurist geworden. Kam da für seine Tochter eine andere Möglichkeit
in Frage?
Lisa beginnt zu begreifen, dass das Leben nicht nur durch die
Möglichkeiten geprägt wird, für die wir uns bewusst
entscheiden, sondern auch durch die Möglichkeiten, die wir
bewusst als Möglichkeit verwerfen, die wir sozusagen abwählen.
Nicht von ungefähr hat dasWort fravalg, auf Deutsch: Abwahl,
in dem Roman eine gewisse Schlüsselbedeutung. Und die Möglichkeiten,
die wir abwählen, bilden dann gleichsam eine Art Hintergrundkontrast
zu dem Leben, für das wir uns entschieden haben.
Der Roman entlässt den Leser mit einem gewissen Gefühl
der Melancholie. Ein Happy End findet nicht statt. Lisa wird nach
Hause zurückkehren. Sie wird ihr bisheriges Leben weiterführen,
aber nun mit dem Wissen darum, dass es für sie seinen Preis
gekostet hat.
Der Roman beweist die intime Vertrautheit der Autorin mit den
Färöern und den färöischen Verhältnissen.
Das zeigt sich in vielen Details. Unter anderem auch in zahlreichen
färöischen Zitaten im Text, deren dänische Übersetzung
der Leser im Anhang des Buches findet. Dem Rezensenten hat die
Lektüre mehrere Aha-Erlebnisse bereitet, wenn er im Roman
Örtlichkeiten beschrieben fand, die ihm aus eigener Anschauung
bestens bekannt sind. Die Rahmenhandlung des Romans spielt im
Jahre 2000. Die politische Situation auf den Färöern
mit der damaligen Koalitionsregierung, die für die Färöer
eine baldige Unabhängigkeit von Dänemark zu erreichen
hoffte, wird zutreffend beschrieben. Es werden mehrere fiktive
Namen von Politikern erwähnt, die in dieser Zeit auf den
Färöern eine politische Rolle spielten und auch jetzt
noch spielen. Dem, der mit der politischen Szene der Färöer
vertraut ist, wird es nicht schwer fallen, die real existierenden
Personen hinter den Pseudonymen zu identifizieren.
All das hat Rezensenten in Dänemark vermuten lassen, dass
der Roman autobiographische Züge trägt. Dagegen hat
die Autorin in einem Interview klargestellt: „Ich bin nicht
Lisa“. Aber man kann mit gutem Grund annehmen, dass die
Autorin diesen Roman so nicht hätte schreiben können,
wenn sie nicht durch ihre eigene Biographie mit den Färöern
verbunden wäre. Die Autorin hat in jungen Jahren, 1965-1967,
in Tórshavn die sogen. „Nonnenschule“ besucht,
die von katholischen Schwestern gegründete St. Frans-Schule,
die später von der Stadt Tórshavn übernommen
wurde. Lisbeth Nebelongs Vater war damals als „Fuldmægtig“,
Abteilungsleiter, in der dänischen Reichsvertretung in Tórshavn
tätig. Nach ihrem Abitur war sie 1973-74 als Aushilfslehrerin
an dieser Schule tätig.
Man kann den Roman auch als eine dezente Liebeserklärung
der Autorin an die Färöer verstehen. Aber es ist eine
verstehende Liebe, die sich nicht blind machen lässt, und
ihr Gegenüber nicht verklärt. Die Färöer,
die der Roman schildert, sind eine moderne Gesellschaft in den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bzw. um die Jahrtausendwende
und meilenweit entfernt von jener exotischen Idylle mit grasgedeckten
Holzhäusern, Balladentänzen, von Schafen bevölkerten
Berghängen usw., die manche noch immer als typisch färöisch
den ausländischen Besuchern meinen verkaufen zu müssen.
Für jemand, der seit Jahren immer wieder auf dieselben stereotypischen
Reiseberichte journalistischer Drei-Tage-Besucher der Färöer
stößt, deren Verfasser, abgesehen von dem obligaten
Hinweis auf den Dauerregen, als ihre wichtigste Reiseerkenntnis
mitzuteilen wissen, dass auf den Färöern doppelt so
viele Schafe wie Menschen leben, ist es eine wahre Labsal, dass
in diesem Roman das Wort „Schaf“ nicht ein einziges
Mal vorkommt. Es geht also auch ohne.
Die Sprache des Romans ist der Thematik angemessen - modern,
aber nicht salopp. Man merkt dem Buch an, dass die Autorin als
ausgebildete Journalistin das Handwerk des Schreibens versteht.
Die Schilderung der ersten Liebesnacht zwischen Lisa und Kári
ist einer der Höhepunkte in diesem Buch. Es gelingt der Autorin,
das Geschehen so zu schildern, dass der Leser sich dabei nicht
als Voyeur empfinden muss.
Beeindruckend ist das psychologische Einfühlungsvermögen,
das die Autorin bei der Darstellung der Personen ihres Buches
an den Tag legt. Das gilt in besonderem Maße von der Darstellung
der Hauptperson, Lisa. Die erwachsene Lisa ist in diesem Roman
ein Mensch mit einem starken Reflexionsvermögen. Überhaupt
gewinnt man als Leser den Eindruck, dass die Handlungsbeschreibung
im Roman an vielen Stellen einen ausgesprochen reflektierenden
Grundzug trägt. Das kann gelegentlich des Guten zu viel sein,
aber im Großen und Ganzen kommt es dem Roman zugute.
Musik spielt in dem Roman eine große Rolle, vor allem die
von Mozart. Nicht von ungefähr erklingt unter anderem Mozarts
Klavierkonzert Nr. 21 in C-Dur, als Lisa und Kári ihre
erste rauschhafte Liebesvereinigung erleben. Als Kári und
Lisa in das Haus von Káris Onkel in Argir kommen, erfährt
der Leser auch indirekt etwas über die Herkunft des Romantitels,
der scheinbar so gar nichts mit dem Inhalt zu tun hat. Káris
Onkel wirft im Gespräch die Frage auf, ob die Engel im Himmel
Gott wohl Bachs Musik vorspielen, wenn sie ihm etwas Gutes tun
wollen. Das sei aber nicht sicher. Jedenfalls habe ein deutscher
Theologe gesagt, er sei sich nicht ganz sicher, ob die Engel Gott
Bachs Musik vorspielen würden, wenn sie damit zugange seien,
ihn zu loben. Aber er sei sich absolut sicher, dass sie in ihrer
Freizeit Mozart spielen würden. Nun, der „deutsche“
Theologe war niemand anders als der Schweizer Karl Barth. Er war
nicht nur im vergangenen Jahrhundert ein ganz großer Theologe,
sondern auch ein ausgezeichneter Mozartkenner. Er schrieb ein
Büchlein über Mozart. Das wurde auch ins Dänische
übersetzt, und die Autorin hat es gelesen, wie man in einem
Interview mit ihr erfahren kann.
Inzwischen ist der Roman Når engle spiller Mozart
in Dänemark in der vierten Auflage erschienen. Wenn auch
die bisherige Gesamtauflage von 3000 Exemplaren aus der Perspektive
des Buchmarktes im deutschsprachigen Raum gering erscheinen mag,
in Dänemark ist eine solche Auflage für einen Romanerstling
ganz beachtlich.
Der Rezensent gesteht, dass ihn die Lektüre des Romans,
auch beim zweiten Mal, innerlich bewegt, um nicht zu sagen, aufgewühlt
hat. Den Reflexionen, welche die erwachsene Lisa in der Rückschau
auf ihr Leben anstellt, kann man sich als Leser schwerlich entziehen,
wenn man sich plötzlich bei der Frage ertappt: „Wie
steht es eigentlich mit Dir und dem Leben, das Du bisher geführt
hast?“
Der Rezensent wünscht dem Buch noch viele weitere Leser,
und zwar nicht nur in Dänemark und auf den Färöern,
und er wünscht sich, dass der Roman irgendwann auch in deutscher
Übersetzung erscheinen kann.
Detlef Wildraut
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