Lisbeth Nebelong
   


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Ort und Erinnerung - Gespräch mit Bergur Rønne Moberg

Ort und Erinnerung - Interview von Bergur Rønne Moberg mit Lisbeth Nebelong, 18.11.2008

Lisbeth Nebelong, geb. 1955, Schriftstellerin, Journalistin & MPM. Debütierte 2003 als Romanautorin mit „Når engle spiller Mozart“ (Wenn Engel Mozart spielen). 2008 erschien ihr zweiter Roman, „Færøblues“. Der 2014 erschienene Roman „Møde i mol“ (Begegnung in Moll) ist der letzte, selbständige Band in der Trilogie über die Begegnung zwischen der dänischen und der färöischen Kultur und über die Leidenschaft zwischen Lisa und Kári. Außer den Romanen hat sie Bücher über Haushaltsökonomie und einen Reiseführer „Turen går til Færøerne“ (Die Reise geht zu den Färöern) geschrieben.

BRM (Bergur Rønne Moberg): Die Musik in deinen Romanen kann ziemlich viel darin erklären. Da ist die dänisch-färöische Kulturbegegnung, die sich durch Musik erklären lässt, die in hohem Maße auf die klassische Musik hinweist. Die Musik ist ein Universum von Gegensätzen, das aus komplementären Gegensätzen besteht: Fülle und Leere, Schnelligkeit und Langsamkeit. Es ist ganzheitsorientiert und beruht auf der Spannung zwischen Gegensätzen.

LN (Lisbeth Nebelong): Ich meine, dass besonders eine Szene in Når engle spiller Mozart zentral ist, nämlich diejenige, in der Lisa im Konzert sitzt und Kári wiedersieht. Da haben wir einerseits Onkel Arnis symphonisches Werk „ Das tausendjährige Meer“ ….. aber während sie zuhört, sitzt sie da und denkt nach über den Kontrast zwischen dem Modernen und dem Uralten. Ihre Assoziationen gehen teilweise hin zu den helleren Tönen, die sie mit Carl Nielsen verbinden, mit wogenden Kornfeldern, und teilweise hin zu dem färöischen Dunkel und der wuchtigen färöischen Landschaft. Und dann sitzt sie und denkt, dass das Nordische viele Stimmen hat, aber hier, im Haus des Nordens, wo sie sitzt, wird es so deutlich, dass der Herzrhythmus derselbe ist. Die Färöer sind etwas Besonderes, sie sind keine Art Norddänemark. Dänemark und die Färöer sind sehr verschieden, aber sie gehören auch zusammen.Wir haben beide unsere Merkmale, und wir müssen uns selbstverständlich auf einem symmetrischen Niveau begegnen. Und das, weil wir mit dem Postkolonialismus und Homi Bhabhas drittem Raum beschäftigt sind. Dort kann man sich erst begegnen, wenn man sich einander symmetrisch betrachtet, und das machen die Dänen mit den Färingern nicht. Entweder sind sie der ungezogene kleine Bruder, der zu viel Geld verbraucht, oder man sieht sie durch eine schönfärberische Søren Ryge-Optik. Es muss also erst etwas entwickelt werden, bevor wir die Symmetrie in dem Verhältnis erreichen und auf verschiedenem Niveau ein Sowohl-als auch.

BRM: Was waren das für Färöer, die du kennengelernt hast, als du dort oben hinzogst? Könntest du etwas über deine erste Begegnung mit den Färöern erzählen?

LN: Beim ersten Mal dachte ich, dass es schrecklich war. Ich habe gerade eine Tournee mit der färöischen Sängerin und Texterin Jensina Olsen hinter mir, und dort habe ich damit angefangen, davon zu erzählen, was für ein großes Trauma es für mich gewesen war, dass ich auf die Färöer ziehen musste. Ich ging in die fünfte Klasse, wir sollten in der Schule ein Theaterstück aufführen, und ich sollte Tante Sofie in Folk og røvere i Kardemommeby (Die Leute und die Räuber in der Kardamomstadt) spielen. Ich saß und weinte, weil ich fortziehen musste. Und dann war die Reise dort hinauf auch schrecklich. Es war im Januar 1966. Mein Vater war im November 1965 dorthin gezogen, es war also mitten im Schuljahr, und die Nacht war schwarz, und wir fuhren mit der TJALDUR. Wenn das heute wäre, würde ich Todesängste ausstehen, aber das tat ich nicht, denn wenn man 10, 11 Jahre alt ist, geht man anders damit um. Die Teller flogen aus den Schränken und die Leute lagen auf dem Boden und erbrachen sich. Im Bordrestaurant saßen ganze drei Leute. Ich fiel in der Nacht aus meiner Koje. Es war Windstärke 11, sagte meine Mutter.  Eine schwarze Januarnacht mit der TJALDUR …..  Wir hatten eine Woche frei, und ich kann mich daran erinnern, als ich morgens aufwachte, dass alles mit dem Kirkjubøreyn und der ganzen Stadt völlig anders war. Am ersten Tag in der Schule verstand ich nichts, ich vermisste Dänemark. Für mich war es traumatisch, dass ich umziehen musste, aber später fand ich mich damit ab.

BRM: Wie lange dauerte der Aufenthalt auf den Färöern?

LN: Ich war von Januar 1966 bis Dezember 1967 dort.

BRM: Zu der Zeit warst du ein älteres Kind.

LN: Ja, in der Vorpubertät. Genau so alt, 11 Jahre, habe ich Lisa während ihres Kindheitsbesuchs auf den Färöern sein lassen. Nun hast du mich einmal gefragt, in welchem Grade ich die postkoloniale Brille aufhabe, wenn ich schreibe. Aber die habe ich während des Schreibvorgangs nicht auf. Im Gegenteil, ich begebe mich hinein und bin vor Ort, spüre, wie es Lisa und Kári geht, wie dem Vater und der Mutter. Es ist ein intuitiver Vorgang, ein Sein. Plötzlich sind dann acht Stunden vergangen, in denen ich den Metablick nicht drauf habe, aber den habe ich vorher und nachher.

BRM: Es sind zwei unterschiedliche Gedankenformen, Zustandsformen, Erzählung und intellektuelle Reflektion, die man bei sich trägt, wenn man schreibt. Es ist nicht verboten, zu denken. Irgendjemand glaubt, dass es widerwärtig ist, wenn man gleichzeitig über verschiedene Dinge nachdenkt.

LN: Es gibt kein Entweder-Oder.

BRM: Ein Beispiel sind deine Anspielungen auf William Heinesen und "De fortabte Spillemænd" (Die verlorenen Musikanten). Der Name William tritt auf und eine deutliche Parallele zu der Orfeus-Gestalt.

LN: Das ist insgesamt ein Bild der Färöer, das ich aus meinen färöischen Erfahrungen habe.

BRM: Du kommst dann zu einer dänischen Bürgerkultur auf den Färöern, zu den Färöern, die zum Teil durch zwei Kulturen geprägt und in Gesellschaftsklassen geteilt sind: also eine kulturelle und soziale Bruchfläche zwischen dem Dänischen und dem Färöischen. Dann schreibst du kritisch über das, was du koloniale dänische Stinkvornehmheit nennst. Du erwähnst auch die dänisch-färöische Polarisierung, die Äußerungen von Hass gegen die Dänen. Du bearbeitest damit eine Kulturbegegnung und einen Kulturzusammenstoß.

LN: Das ist klar, weil es ein Schock war, als die Jungen „dänische Scheiße“ hinter einem her riefen. Da wurde mir bewusst und ich begriff, dass sie mich nicht leiden konnten, weil ich Dänin bin. Ich wusste zu der Zeit nichts von der Politik, aber ich konnte einfach an meinem eigenen Körper spüren ….. Worum geht es da, nicht wahr? Das ist tief in meine Seele eingegraben, während gleichzeitig die Natur und die Musik dort oben einen entsprechend positiven Eindruck gemacht haben. Ich wurde in etwas hineingeworfen und wurde leiblich verwurzelt, und ich musste alle die hier widerstreitenden Erlebnisse untersuchen. Ich bin zu Bearbeitung und Weiterentwicklung gezwungen worden und habe das als eine künstlerische Triebkraft verwendet.

BRM: Das Trauma besteht darin, zu erleben, dass das, was man von sich selbst als gegeben angenommen hat, plötzlich verkehrt wird.

LN: Genau, es ist wirklich hart, das als Kind zu erleben. Gleichzeitig wird es eine Triebkraft, und dann die ganze färöische Natur, die sich einem in die Seele einbrennt.  Ich habe ein Bild vor Augen, wo meine beiden jüngeren Schwestern und ich unter roten Wolldecken im Heck der Thorshavn liegen, im Dienstboot des Reichsombudsmanns, fast überall auf den Färöern hinfahren und die Sterne betrachten. Das war ein starkes Naturerlebnis.

BRM: Wann empfindet man das Zuhause-Gefühl am stärksten? Genau dann, wenn man sich am meisten exponiert fühlt. Sturm und hohe Berge, man kann sich nur ein bisschen in einer Richtung bewegen, sonst stürzt man von der Felskante ab, das schlechte Wetter. Wo fühlt man sich mehr beschützt als ausgerechnet an exponierten Orten dieser Art. Ich denke an dasjenige Zuhause-Gefühl, das sich auch in dein Gemüt und in deine schriftstellerische Tätigkeit eingepflanzt hat. Das kann man in deinen Romanen an mehreren Stellen mit sehr starken Ortsschilderungen merken. Es sind nicht nur Beschreibungen der färöischen Gesellschaft und Kultur. Da ist auch das Cello, das Árni vor Ort herstellt und das personifiziert wird. Es ist übrigens vor Ort hergestellt worden wie die Windharfe von Kornelius Isaksen in De fortabte spillemænd. Es gibt dort einen Geist des Ortes, eine Tiefe im Erleben des Ortes …..

LN: Für meine mittlere Schwester und für mich hat es alles bedeutet, dass wir diese Erlebnisse gehabt haben. Sie beschäftigt sich damit, Natur-Erlebnis-Gärten und Naturspielplätze zu schaffen, und ich schreibe Romane. Wir würden heute nicht die Menschen sein, die wir sind, wenn wir nicht verpflanzt worden wären.

BRM: Das Umziehen – die erzwungene Migration, wenn man so will – hat im Gemüt einige Barrieren gesprengt.

LN: Vollkommen. Es ist das Trauma meines Lebens und das Geschenk meines Lebens. Das ist meine ganze Identität. Ich kehrte auch wieder zurück. Das haben meine Schwestern nicht getan. Ich habe den Vorteil, dass ich mich im Gegensatz zu meiner jüngsten Schwester an eine ganze Menge erinnern  kann. Sie war zu der Zeit 5-6 Jahre alt und kann sich nicht an so viel erinnern. Ich kam als 18jährige Studentin zurück und wurde für ein Jahr Aushilfslehrerin an der „Nonnenschule“. Was das Stinkvornehme betrifft, so gab es da den Reichsombudsmann Mogens Wahl (1961-1972, BRM). Er gehörte zu denen, die ganz und gar mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen. Er war nicht stinkvornehm in kolonialer Weise, und er war unter Färingern wohlgelitten. Aber ich habe später andere Reichsombudsmänner erlebt, die großkotzig waren. Als Kind kam ich oft in die Reichsvertretung, wo ich mich mit Irina Wahl anfreundete. Das war auch eine Kulturbegegnung, denn ich gehörte nicht zur Oberschicht des Bürgertums, sondern mehr zur mittleren Mittelklasse. Das registrierte ich auch mit seismografischem Einfühlungsvermögen. Heute wohne ich in Vangede, und drüben in Hellerup. Das ist da, wo man, wie eine Freundin sagt, in „Regionalmänteln“ geht, d. h. in Minkpelzen. Es sind auch Erfahrungen daraus, die ich verwenden kann, wenn ich Lisa zur Reichsombudsmanntochter mache. Das Oberklassemilieu hat seine guten und seine schlechten Seiten. Sie haben eine Weite, weil sie die Sonnenseite sind. Lisas Bruder Erik ist sich nicht im Klaren darüber, wie kolonial er denkt. Denn für ihn ist die Oberklasse „the white man“.

BRM: In der färöischen Gesellschaft ist die Oberklasse sehr deutlich wahrzunehmen.

LN: Als ich als 18jährige zurückkam, erlebte ich nicht diese Asymmetrie. Mogens Wahl war, wie gesagt, darüber erhaben. Aber gewisse dänische Handwerker, Marinesoldaten und Leute von der NATO, über die ich mich in meinem ersten Roman auch ein bisschen lustig mache, die solltest du mal hören. Von denen fühlte ich mich peinlich berührt. Die waren gegenüber den Färingern herablassend. Da denke ich, dass es bei der unteren weißen Mittelklasse in den USA genau so ist, von der die Schwarzen gemobt werden. Auf diese Weise habe ich viele verschiedene Eindrücke erhalten ….. ich habe die schwachsinnigen Dänen dort erlebt, ich bin den netten Färingern begegnet, den negativen Färingern. Viele verschiedene Typen, die Stereotypen von der Art „So sind Färinger, so sind Dänen“ entgegenwirken. Die-wir. Ich habe viele Nuancen in diesem Kulturbild.

BRM: Deine Romane sind insgesamt eine Mischung aus Erfahrung und Recherche.

LN: Ja, das ist eine Mischung davon.

BRM: Ist dein Interesse für die Färöer dauerhaft geblieben?

LN: Bereits als ich 18 war und dort oben herumlief, wusste ich, dass ich einen Roman Når engle spiller Mozart schreiben würde, dessen Hauptperson in Wirklichkeit Kàri war. Ich las Karl Barths Buch über Mozart, in dem er sagt, dass er sich nicht sicher sei, ob die Engel Bach spielen würden, wenn sie Gott loben, aber ganz sicher, dass sie Mozart spielen würden, wenn sie Freizeit haben. Und ich dachte, dass ich einmal ein Buch schreiben würde, das Når engle spiller Mozart heißen würde. Dann war ich 1988 zusammen mit meinem Mann  auf den Färöern. Damals saß ich als stellvertretende Direktorin in der Presseabteilung von DSB (Dänische Staatsbahnen) und war auf den Färöern, um einen Artikel für die Zeitschrift Ud og se (Hinaus und sieh) der DSB zu schreiben. Dort landeten wir mit einem Flugzeug von Atlantic Airways. Das war furchtbar. Und dann kam ich erst 2000 wieder hin. Es gab eine Pause von 11 Jahren, wir hatten unseren Sohn bekommen, und es gab auch keinen richtigen Anlass, auf die Färöer zu reisen. Wegen der bitteren Stimmung nach der Krise von 1992 hatte ich auch keine Lust, dort hinauf zu reisen. Es war eine zugespitzte Lage. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Aber im Jahr 2000 musste ich im Zusammenhang mit meinem Masterstudium in öffentlicher Führung ein Auslandsseminar schreiben, und ich dachte, jetzt reise ich auf die Färöer und schreibe über den Unabhängigkeitsprozess, der sich damals gerade auf seinem Höhepunkt befand. Ich interviewte färöische Politiker und Beamte, und als ich 2002 wieder auf die Färöer reiste, um meinen ersten Roman zu schreiben, ergab es sich einfach so, dass ich herausfand, dass es klar war, das Politische als Kulisse in meinem Roman zu verwenden. Als Kind hatte ich von Politik überhaupt keine Ahnung. Die interessierte mich damals nicht. Das hat auch etwas mit Anthropologie zu tun. Früher, als ich Ökonomieberaterin war, pflegte ich allen, die ich schulte, zu sagen: Du musst in deinem eigenen Leben Anthropologe spielen. Schau auf  Vorbilder. Das ist der Zugang, den ich auch hier habe. Ich habe die anthropologische Brille auf oder den Blick der untersuchenden Journalistin, die die Brille putzt, die Wandtafel abwischt und versucht, sich von Vorverständnissen zu befreien und versucht, Vorbilder zu sehen.  Nun wird es meine Aufgabe sein, auch einen Reiseführer über die Färöer zu schreiben ("Turen går til Færøerne" von Lisbeth Nebelong, erschien 2010, und eine aktualisierte Auflage 2013).

BRM: Wenn wir uns den Vorstellungen des Romans über die alten Färöer zuwenden, dann ist da Káris väterliche Großmutter auf Sandoy. Kári erhielt bei der Taufe den Namen Kári Sandoy, und diese Großmutter ist so etwas wie eine einfache Frau. Sie ist der Inbegriff der Solidität und Sicherheit, und den Hintergrund ihrer Beschreibung bildet eine Welt mit Scheidungen und Unrast, eine Welt, die sich generell in heftiger Bewegung befindet. Du beziehst das ganze Spektrum von den einfachen Leuten bis zur Oberklasse mit ein und beschreibst sozusagen im Überblick ein Bild der Färöer, das sich von dem alten und neuen Färöischen bis zum alten und neuen Dänisch-Färöischen erstreckt. Deine Romane wirken hinsichtlich ihrer Gesellschaftsbeschreibung sehr durchdacht.

LN: Das kommt auch daher, dass ich diese Dinge erlebt habe. Als Kind kam ich zu Besuch auf Kalsoy, und die Insel hatte gerade vor einem Jahr elektrisches Licht bekommen. Es liegt also daran, dass ich mit dem Schiff des Reichsombudsmannes gereist bin und auf den Besuchen in ziemlich vielen Ortschaften dabei gewesen bin. Mein Bild der Färöer beruht auf diesen Erfahrungen, sonst wäre es nur Tórshavn gewesen. Ich habe einige besondere Erfahrungen auf Sandoy, wo ich sehen konnte, dass die Strände und Dünen mich etwas an Dänemark erinnerten. Es lag eine dänisch-färöische Stimmung über der Landschaft. Am allermeisten fiel es mir bei Besuchen in verschiedenen Häusern auf ….. da bekam man die alte „Kolonialmacht“ sozusagen direkt an den Kopf geworfen. Alle Bücher waren dänisch: Håndbog for nutidshjem (Handbuch für den modernen Haushalt), dänische Lexika usw. Das sagte mir viel mehr als manche politische und historische Werke über die Färöer. Die besaßen nur dänische Bücher. Ich habe also auch versucht, mich auf die Wurzeln zu konzentrieren, um eine Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellen zu können.

BRM: Diese großen Verknüpfungen sind auch das, was ich mit deinem schriftstellerischen Werk verbinde. Verknüpfungen, die über die aktuelle Kulturbegegnung hinausgehen.

LN: Als Masterstudentin war ich sehr beeindruckt von Tim Knudsens Buch über Staatsaufbau und bin es immer noch. Er betrachtet diese Dinge auch intuitiv-ganzheitlich, und vielleicht kann das etwas damit zu tun haben, dass er ursprünglich Handwerker war. Er spricht davon, wie verschiedene Zeiten und Meilensteine Schicht um Schicht aufgebaut werden. Tim Knudsen formuliert seine These, indem er sagt, dass Staaten und ihre Identität nicht rational und konsequent aufgebaut werden, sondern eher wie archäologische Schichten aus mehr oder weniger bewussten Normen und Werten bei Politikern, Beamten und Bürgern geformt werden. Er spricht viel über das Geopolitische, dass die Landschaften die Menschen formen, dass Form das Politische und Machtpolitische ist. Man ist ein Produkt seines Landes, der Berge, Felder, seiner Geschichte usw. Deshalb versuche ich, tief in die Kultur hineinzugehen und deshalb vermische ich das schöngeistig Literarische mit dem Journalistischen und dem Politischen. Ich habe diese Überlegungen in Når engle spiller Mozart angewendet.
     Ich sitze nicht da und schreibe in einem Rausch von Nostalgie, alles ist durchdacht, weil ich ein Metabewusstsein besitze. Aber ich will den Leser nicht damit belästigen. Ich bin nicht besonders versessen auf das postmodernistische Ideal, dass der Leser während des Lesens dauernd  unterbrochen werden muss und um Himmels willen sich selbst nicht vergessen und sich im Leseerlebnis nicht verlieren darf.

BRM: In deinen Büchern herrscht ein starkes Interesse für Ethnografie. Ich denke an das Wissen von der Gesellschaft,  das sich in deinen Büchern niedergeschlagen hat. Wenn man das mit dem „mapping“ verknüpft, von dem in der postkolonialem Theorie so viel die Rede ist, und in der es darum geht, wie man in vielen verschiedenen Zusammenhängen das neue Land, die neue Geografie, zu denen man kommt, analysiert, katalogisiert und archiviert, dann  ist das auch interessant. Aber deine Beschreibung gerät da doch wohl in eine Schicht oberhalb des Imperialen, wo du wieder die Färöer beschreibst. Ist das ein writing back im Verhältnis zu dieser kolonialen Objektivierung?

LN: Ich meine, dass ich eine einzigartige Geschichte über die Färöer zu erzählen habe. Weil ich hier so viele „Blicke“ auf die Inseln habe. Weil ich als Kind dort gelebt habe, das ist die unterste archäologische Schicht. Es sind das Kind, der Leib und die Sinnesempfindungen, die den Klangboden in meinem schriftstellerischen Werk darstellen. Das ist das Wichtigste, und darüber hinaus habe ich einen intellektuellen Überbau mit einer jungen Frau, einer Journalistin und einer Masterstudentin, die von außen kommen und politologisch die Entscheidungsprozesse und das Verhältnis zu und gegen Dänemark untersuchen. Dann ist es für mich wichtig gewesen – in meinen Romanen – in die Ortschaften hinaus zu kommen und die Alltagskultur, die bäuerliche Kultur und   die Kultur der Hochseefischer zu beschreiben, und somit auch die Moderne. Mein Zugang ist also der „fünfte Blick“, der versucht, alle die anderen in sich zu fassen, und gleichzeitig versucht, sich von ihnen freizuhalten. Es liegt auch eine Balance darin: Den Blick auf das Globale zu haben, ohne die Wurzeln aus dem Blick zu verlieren.

BRM: Die „fünf Blicke“ weisen auf die archäologische Schicht hin. Es ist ein in Schichten aufgeteiltes und umfassendes Interesse für die Färöer, in dem das Unterste eine mythische Schicht ist, die ursprünglich der Kindheit zugehört, was du vielleicht auch jungianisch interpretierst oder unmittelbar auf Erfahrung beruhend. Dann kommt dein kulturelles und gesellschaftliches Interesse dazu, das aber im Prozess des Schreibens, wenn  du Autorin bist, eine sekundäre Bedeutung hat. 

LN: Das ist der Ort, der sich ganz einfach in meine Seele eingebrannt hat wie ein genius loci.

BRM: Erik wird als eine geradlinige Existenz beschrieben, Lisa dagegen als eine mehr gekrümmte Existenz, was durch ihren Hintergrund mit einer doppelten Kultur noch verstärkt wird. Deshalb wird sie in ihrer Begegnung mit den Färöern leicht angefochten.

LN: Ja, genau. Erik erfasst es überhaupt nicht auf dem unteren Niveau, und so wurde er gerade deswegen Psychiater, weil ihm die eine oder andere Dimension des Verstehens fehlt. Er ist sehr klug und interessant, und er spielt schließlich durch seine Neujahrsbriefe an Kári eine wesentliche Rolle im dritten Band der Romantrilogie. Er ist ein sehr netter und lieber Mensch, aber er hat seine blinden Flecken. Er ist the white man, er ist eben Oberklasse.

BRM: Er sieht nicht das Anderssein. Sein Verständnis des Andersseins schlägt sich nicht richtig nieder.

LN: Ja, aber gleichzeitig hat er einen Überschuss. Er ist also eine doppeldeutige Figur. Er ist ein Überschussmensch, er ist nett zu Lisa und zu Kári.

BRM: Überschuss schafft immer einen extra Raum.

LN: Erik hat einen Überschuss und eine Großzügigkeit von der Art des Mogens Wahl. Hast du die Geschichte von damals gehört, als Mogens Wahl für eine Frau Taxi fuhr. Die habe ich jetzt, als ich da oben war, zweimal gehört. Er sitzt in seinem Auto draußen vor dem Hotel Hafnia, und dann kommt eine Frau, setzt sich hinten hinein und bittet ihn, sie zu verschiedenen Orten hinzufahren, sie müsste zur Apotheke und noch hierhin und dorthin. Und er verfrachtet sie überall hin und dann nach Hause, und erst, als sie bezahlen will, und er sagt, dass er nichts dafür zu bekommen hat, geht es ihr auf, dass es der Reichsombudsmann ist. Die Geschichte sagt viel über ihn aus. Auf diese Weise – mit seinem Überschuss – hat Erik in dem Roman eine einzigartige Rolle.

BRM: Du erwähntest in deiner Mail an mich, dass es auf den Färöern ein Beharren auf das Leben gibt.

LN: Ich sehe auch in diesem Fall die Färöer von außen und von innen. Es gibt irgendjemand – so viel ich weiß, Jacques Lacan -  der gesagt hat, wenn man nicht versucht habe, in verschiedenen Kulturen zu leben, habe man einen lack of lacking. Die Färöer haben meine Seele geformt. Ich wurde in eine andere Welt hineingeworfen und habe einen Blick auf mich selbst gewonnen. Die Tatsache, dass ich einen journalistischen Hintergrund habe und gewohnt bin, mich mit verschiedenen Milieus vertraut zu machen und zu recherchieren, hat mir sehr dabei geholfen, mich mit dem färöischen Milieu vertraut zumachen. Ich bin zu vielen Orten in der Welt gereist, als Journalistin kann man zu allen Milieus einen Zugang finden, und im Verlauf meiner Romanrecherche habe ich auch eine Fangtour mit einem Fischtrawler mitgemacht. Dreizehn Tage, während derer wir von Tórshavn zum Islandrücken und zum Munkagrunnur, südlich der Färöer, fuhren und Fisch in Scrabster anlandeten. Da bekam ich eine Menge Inspiration für Færøblues.

LN: Du fragtest mich einmal so großzügig, ob ich den färöischen Gesellschaftsroman schreibe. Nein, das tue ich nicht, aber ich schreibe vielleicht den dänisch-färöischen Gesellschaftsroman. Aber ich tue es, weil ich alle die Schichten, den Klangboden des Selbsterlebens besitze, und dann  habe ich auch den kritischen und reflektierenden Blick usw. Deshalb meine ich, dass ich eine einzigartige Geschichte zu erzählen habe, die das dänisch-färöische Verhältnis vielleicht bereichern kann. Kirsten Thisted hat in einem Artikel über Når engle spiller Mozart u.a. geschrieben, dass man das Buch auch als eine Aufforderung zu dieser Diskussion hier lesen kann, was wir mit der Reichsgemeinschaft wollen. Diese Diskussion vermisse ich in Dänemark. Im Großen und Ganzen besteht dafür kein Interesse. Ich meine, dass es wichtig ist, ein nuancierteres Bild von den Färöern und der Reichsgemeinschaft zu bekommen.

BRM: Hans Hauge hat gesagt, wenn man eine äußere Grenze setze, entferne man gleichzeitig eine innere.

LN: Das darfst du gerne etwas vertiefen.

BRM: Wenn Dänemark seine äußeren Grenzen gegenüber Deutschland definiert, dann verschwinden die inneren Grenzen, und deswegen hat man in Dänemark den Eindruck gewonnen, dass der Unterschied zwischen Dänemark und den Färöern nicht so markant ist. Man begreift die Färinger als eine Art Dänen. Es steht nicht ganz deutlich fest, dass die färöische Kultur eine selbständige Kultur ist. In dieser Auffasung liegt so ein Hauch Norddänemark über den Färöern.

LN: Damit bin ich ganz einverstanden.

BRM: Ich denke an deine deutlichen William Heinesen-Bezüge in dem Roman. Da handelt es sich wohl nicht nur um einen Gruß und um eine Inspiration, du schaffst auch eine Distanz zu Heinesen?

LN: Für mich war es eine Blockade, weil ich dachte, kann ich über das hier schreiben, wo wir doch einen Roman wie De fortabte Spillemænd haben. Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass Kári die Hauptperson in meinem Debutroman werden sollte, aber auf Anraten meines Verlegers entschied ich mich dafür, den ersten Roman mit dem Ausgangspunkt in der Person von Lisa und als modernes Frauenportrait zu schreiben, und der Roman unterscheidet sich nur durch diesen Umstand von dem Roman "De fortabte Spillemænd". Gottseidank, denn ich hätte mir bei dem Projekt den Hals gebrochen, wenn Kári die Hauptperson geworden wäre. Aber als ich den Debutroman geschrieben hatte, konnte ich merken, dass ich über ihn schreiben musste, und so wurde Kári die Hauptperson in Færøblues. In diesem Roman stellt William sich in buchstäblichem Sinne auf einer Brücke blockierend in den Weg, als Kári vorbei muss. Ich habe versucht, William auf die Erde zu holen, sonst hätte er für mich zu viel blockiert. Ich habe etwas anderes zu bieten. William – großen Respekt. Es geht nicht darum, mich mit ihm zu vergleichen.

BRM: Mit großen Vorgängern ist es oft so, dass sie so groß sind, dass man wegen ihnen nicht weiterkommen kann, aber ohne sie kann man auch nicht weiterkommen. Das ist diese Doppelheit, die in dem massiven Bezug auf die Orfeus-Figur in dem Roman liegt, die ja auch in De fortabte Spillemænd so zentral ist. Kári hat insofern dasselbe Projekt wie Orfeus: Es geht darum, aus der Unterwelt aufzutauchen.

LN: Es ist ja ein Entwicklungsroman, den ich schreiben will.

BRM: Deine Romane aktualisieren "De fortabte Spillemænd", der ebenfalls von Kulturbegegnung handelt.

LN: Genau. Ich möchte gerne eine Romantrilogie schaffen, die von 1965 bis 2006 reicht – eine 41jährige dänisch-färöische Kulturbegegnung in der modernen Tradition, die Färöer in der modernen Welt und nicht in der alten, die William beschreibt. Aber das ist schwer gewesen, doch dann bringe ich William in den Roman hinein, mache mich so etwas lustig darüber und hole William auf die Erde herunter.
                                                                                       Aus dem Dänischen von Detlef Wildraut

Vielen Dank an Detlef Wildraut für die deutsche Übersetzung von Bergur Rønne Mobergs Interview, das in dem Buch "Perspektiver på Henrik Stangerup - og andre nordiske forfattere" (2014) gebracht wurde.

 
   
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